Nadia Comăneci und die perfekte 10

Roman über das rumänische Turnwunder

Comaneci BuchOlympische Spiele, Montreal 1976. Gerade hat Nadia ihre Stufenbarrenkür beendet.

»Was die Kleine gerade vorgeführt hat, wirft jede Abfolge über den Haufen, Zahlen, Wörter, Bilder. Das hier liegt jenseits des Begreiflichen. Was da soeben passiert ist, kann man überhaupt nicht werten. Um die Schwerkraft schert sie sich einen feuchten Kehricht, ihr zarter Körper schafft sich Raum in der Luft und schmiegt sich hinein. […] Die elektronische Anzeigetafel zeigt COMANECI NADIA, ROMANIA, dann die 73, ihre Startnummer, und da, wo eigentlich ihre Wertung stehen sollte: nichts. Alle warten. Totenbleich laufen die sowjetischen Turnerinnen in dem Bereich, der für die Trainer und die fertigen Wettkampfteilnehmerinnen reserviert ist, auf und ab. Sie wissen es.

Die Mannschaftskolleginnen der Rumänin dagegen wirken verzweifelt, Dorina presst die Hände zusammen, Mariana murmelt wieder und wieder den gleichen Satz vor sich hin, eine andere kauert am Boden, die Augen geschlossen; Nadia selbst steht etwas abseits, ihr Pferdeschwanz leicht verrutscht, sie wirft nicht einen Blick auf die Anzeigetafel. Und so sieht sie als Erstes ihn, Béla, ihren Trainer, da steht er, die Arme in den Himmel gereckt, den Kopf in den Nacken gelegt; sie dreht sich um und sieht ihre Abstrafung, diesen furchtbaren einen von zehn Punkten, der in Leuchtziffern vor den Kameras der ganzen Welt erscheint. Eins Komma Null Null. Im Kopf geht sie mögliche Fehler durch, die Landung beim Salto rückwärts vielleicht, nicht ganz sicher gestanden, was kann sie bloß angestellt haben, dass sie das hier verdient? Béla umarmt sie, sei nicht traurig, Liebes, wir legen Einspruch ein.

Aber einer der Kampfrichter, der Schwede, lässt sie aufmerken. Weil er aufsteht. Weil er Tränen in den Augen hat und sie so unverwandt anschaut. […] Das Publikum hat sich erhoben, ein Grollen von achtzehntausend Körpern, rhythmisch donnern ihre Füße auf den Boden, und der Schwede steht mitten im Lärm, öffnet und schließt den Mund, spricht unhörbare Worte, ein Blitzlichtgewitter, ein gleißender, flackernder Regen, sie kann den Schweden kaum erkennen, was tut er da, er öffnet beide Hände, und die ganze Welt filmt die Hände, die der Richter ihr entgegenstreckt. Da streckt auch die Kleine ihm die Hände entgegen, bittet um Bestätigung, ist das etwa eine … Zehn? Und er: ganz langsam nickt er, die Finger immer noch gespreizt vor dem Gesicht, Hunderte Kameras verdecken ihm das Kind, die Mädchen aus der rumänischen Mannschaft tanzen um sie herum, ja, Liebes, ja, dieses Eins Komma Null Null ist eine Zehn.«

Mit diesen eindrucksvollen Zeilen beginnt Lola Lafons Roman über die Turnerin Nadia Comăneci. Die am 18. Juli 1976 für diesen magischen Moment der Sportgeschichte gesorgt hat, war eine Vierzehnjährige aus Rumänien. Eine 10,0 wurde bis dahin noch nie vergeben und galt als unerreichbar. Es war die erste Höchstnote im Damenturnen in der Geschichte der Olympischen Spiele. Nadias »Anmut, Präzision, diese Bewegungsamplitude, Risiko und Kraft« haben selbst die Computer zum Versagen gebracht. »She’s perfect«, titelte das US-amerikanische Nachrichtenmagazin Time. Auf ihrem Weg zur dreifachen Olympiasiegerin erhielt Nadia noch weitere sechsmal eine »perfekte Zehn«.

Automatenmädchen?

Lola Lafon erzählt eine täuschend echte fiktive Biografie der Ausnahmeturnerin, »die niemals lächelte«, in der sie auch frei erfundene Dialoge mit Nadia eingebaut hat. Schnell merkt man aber, dass das, was in einem »sprachlichen Parforceritt« (Klappentext) mit Montreal 1976 beginnt, mit einem tatsächlich wenig vorhandenen Interesse der Autorin an ihrer Protagonistin kontrastiert. Lafon braucht Nadia schon, als Zugpferd und als Projektionsfläche für ihre eigenen Vorurteile. Ihr geht es mehr um Themen wie kindliche Manipulation und Ausbeutung, um die Aneignung des weiblichen Körpers, und sie spart auch nicht an antikommunistischen Klischees. Da wundert die seltsame Titelgebung des Romans dann auch nicht mehr. Nadia, die »Kommunistenfee«, kommt in dem Roman nicht gut weg, ihr Trainer Béla Károlyi ebenso wenig. Ihm unterstellt Lafon unmenschliche Trainingsmethoden. Er soll seinen Schützlingen nur Schmerz, Hunger, Unterordnung und Selbstaufopferung abverlangt und die Kinder zu Automatenmädchen gedrillt haben. Und wozu? Angeblich damit seine Turnerinnen Triumphe zum Ruhm des Diktators Ceaușescu einfahren sollten. Tatsächlich setzte Kárloyi gegen alle Widerstände seine eigene Sportschule in Rumänien durch, er strukturierte das Training in einer Weise, die die physische und mentale Kraft der Turnerinnen auf neue bemerkenswerte Ebenen hob. 1980 brachte er die vom Rumänischen Turnverband bereits abgeschriebene Nadia nochmals zu den Olympischen Spielen, wo sie wieder zwei Mal Gold gewann. Ein Jahr später setzte sich Béla Károlyi in die USA ab und führte die bis dahin international unbedeutenden US-Turnerinnen mit seinen »umstrittenen Methoden« zu Goldmedaillen bei der 1984er Olympiade in Los Angeles. Kárloyi hat in seiner Trainerlaufbahn insgesamt neun Olympiasiegerinnen und 15 Weltmeisterinnen hervorgebracht.

Vertane Chance

Nadia Comaneci Celebrating at Olympics

Und sie hat doch gelächelt. www.ekipa24.si

Es hätte ein wirklich guter Roman werden können, denn Nadias Biografie hat das Potenzial dazu. In einigen Momenten blitzt diese Möglichkeit im Buch auch auf. Zum Beispiel als Nadia bei der Weltmeisterschaft 1979 wegen einer Verletzung ins Krankenhaus musste, dieses aber entgegen dem Rat der Ärzte verließ und am Schwebebalken eine exzellente Leistung darbot. Damit sicherte sie ihrem Team die Goldmedaille. Und »als die 9,95 aufscheint, beinahe die Höchstwertung, ist Nadia schon mit Blaulicht auf dem Weg zur Notaufnahme ins Krankenhaus von Dallas«. Oder Nadias Flucht über die Grenze nach Ungarn, wenige Wochen vor der Dezember-Revolution 1989, die Nadia in ihrem autobiografischen Buch Letters to a young gymnast (Basic Books, New York 2004) so plastisch erzählt – im Roman gerät sie zu einem langatmigen Plot. Oder auch 1977, Europameisterschaften in Prag. Wegen unfairer Benotung musste die rumänische Mannschaft auf höchste Anordnung die vorzeitige Heimreise antreten. »Ich ging zum Schwebebalken und führte eine weitere nahezu perfekte Übung durch. … Nach meinem Abgang wies Béla die Teammitglieder an, die Koffer zu packen, denn wir müssten den Wettbewerb vorzeitig verlassen. … Als ich aus der Arena ging, blickte ich zurück und sah meine Note vom Schwebebalken. Es war eine weitere 10« (Zitat aus Letters …).

Lola Lafon ist auf ihrer »Spurensuche« an ihrer eigenen subjektiven Wahrheit – nach starkem Beginn – grandios gescheitert. Dass das reale Leben oft spannender ist als eine Bio-Fiction, kann man in Nadias Buch oder in den Erinnerungen ihres Trainers Béla Károlyi (Feel No Fear. The Power, Passion and Politics of a Life in Gymnastics. Hyperion, New York 1994) nachlesen. Auch in deutschsprachigen Interviews kommt Nadia im Originalton unverfälscht zu Wort (siehe twitter.com/yp_detemple). Heute lebt sie mit ihrem Ehemann, dem ehemaligen Turner Bart Conner, im US-Bundesstaat Oklahoma und ist seit 2006 Mutter eines Sohnes.

Bleibt noch die Sache mit dem Lächeln. Betrachtet man Videos von Nadias Auftritten, sieht man, dass sie auch gelächelt hat, sogar oft. Nie während der Übungen, da war sie völlig in Konzentration versunken. Aber zwischen den Übungen und bei den Siegerehrungen, auf dem Podium.

Lola Lafon: Die kleine Kommunistin, die niemals lächelte. Roman. Piper, München 2014, Hardcover, 284 Seiten; 19,99 €. Auch als eBook erhältlich.

Hinterlasse einen Kommentar